Neuer Höchststand beim Studieren ohne Abitur
In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten hat das Studium ohne allgemeine Hochschulreife oder Fachhochschulreife einen nahezu durchgängigen Wachstumstrend erlebt. Waren es 1997 in ganz Deutschland nur 1.568 Personen, die ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung (HZB) ein Studium aufnahmen, hat sich diese Zahl im Jahr 2021 mit 16.107 Erstsemestern verzehnfacht. Prozentual gesehen ist der Anteil der Studienanfänger*innen, die über den beruflichen Weg an die Hochschule gelangt sind, bei allen Studienanfänger*innen im Bundesgebiet im selben Zeitraum ebenfalls deutlich gestiegen, und zwar von 0,6 Prozent auf mittlerweile 3,4 Prozent.
Eine ähnliche Entwicklung, wenn auch auf niedrigerem Niveau, zeigt sich bei den Studierenden ohne allgemeine Hochschul- und Fachhochschulreife. Hier steigt der Anteil an allen Studierenden im Bundesgebiet seit 1997 von 0,5 Prozent auf 2,4 Prozent in 2021. Es wird ebenfalls ein neuer Höchststand erreicht. Die absoluten Zahlen verdeutlichen das Wachstum: 1997 haben 8.447 Studierende ohne schulische HZB studiert, im Jahr 2021 klettert dieser Wert auf beachtliche 70.338 Personen – so viele wie noch nie zuvor.
Dass das Studium bei vielen beruflich Qualifizierten von Erfolg gekrönt ist, zeigt die deutlich wachsende Zahl an Hochschulabsolvent*innen ohne Abitur oder Fachhochschulreife. Während die amtliche Statistik 1997 nur 528 Nicht-Abiturient*innen zählte, die ein Studium erfolgreich beenden konnten, sind es im aktuellen Berichtsjahr 9.558 und damit rund 18 Mal so viele. Im Jahr 2021 beträgt der Anteil der Hochschulabsolvent*innen ohne Abitur an allen Hochschulabsolvent*innen in Deutschland 1,9 Prozent. Im Jahr 1997 lag diese Quote noch bei 0,2 Prozent.
Auch das quantitative Verhältnis der Studienfänger*innen zu den Absolvent*innen spiegelt die positive Entwicklung wider. Blickt man auf das Studium ohne Abitur im Jahr 1997 zurück, kamen auf 100 Erstsemester ohne schulische HZB rund 34 Absolvent*innen ohne (Fach-)Abitur. Nunmehr ist das Verhältnis auf 100:60 gestiegen.
Dritter Bildungsweg deutlich etablierter als noch vor 25 Jahren
Insgesamt wurden seit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) zum „Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“ im Jahr 2009 bereits mehr als 75.000 beruflich qualifizierte Hochschulabsolvent*innen erfolgreich in den Arbeitsmarkt entlassen. Ein Studium über den sogenannten „Dritten Bildungsweg" zu beginnen und am Ende erfolgreich abzuschließen, ist damit in Deutschland deutlich normaler geworden als vor 25 Jahren. Die obige Abbildung zeigt, dass ein Studium ohne Abitur immer noch eher die Ausnahme als die Regel ist – die Zahl der Ausnahmen ist jedoch deutlich gestiegen.
Beim Vergleich der Zahlen aus dem Jahr 2021 mit denen des Vorjahres ist bei den Studierenden ohne Abitur weiterhin ein positiver Trend zu erkennen. Im aktuellen Berichtsjahr sind 4.422 Personen mehr an deutschen Hochschulen und Universitäten eingeschrieben als noch im Jahr zuvor. Auch der Anteil der Studienanfänger*innen steigt um 0,3 Prozent und liegt aktuell bei 3,4 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet das einen Anstieg an Erstsemestern von 856 Personen. Die Quote der Hochschulabsolvent*innen beträgt im selben Zeitraum 1,9 Prozent, was einen Anstieg von 0,1 Prozent bedeutet.
Beruflich Qualifizierte ähnlich erfolgreich wie traditionell Studierende
Bundesweite Untersuchungen zum Studienerfolg und zum Abbruchverhalten von beruflich qualifizierten Studierenden gibt es in Deutschland wenige und wenn, kommen sie oft zu widersprüchlichen Aussagen. Ein Forschungsprojekt des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und der Humboldt-Universität zu Berlin kommt zu dem Ergebnis, dass beruflich qualifizierte Studierende ohne Abitur oder Fachhochschulreife ähnlich erfolgreich sind wie Studierende mit (Fach-)Abitur. So unterscheiden sich die Abschlussnoten nicht-traditionell Studierender kaum von denen der Studierenden mit Abitur oder Fachhochschulreife. Beim Abbruch zeigt sich hingegen ein höheres Risiko, was darauf zurückgeführt wird, dass diese Personengruppe häufig in Fernstudiengängen eingeschrieben ist (vgl. Dahm & Kerst 2019: Wie erfolgreich sind Studierende mit und ohne Abitur? Ein bundesweiter Vergleich zu Studienerfolg und Studienleistungen). Auch die Ergebnisse einer aktuellen Studie zeigen, dass nicht-traditionell Studierende trotz guter Studienleistungen einem erhöhten Abbruchrisiko unterliegen (vgl. Herrmann 2022: Abbruchgründe nicht-traditioneller Studierender – Identifikation von Clustern mittels Data Mining). Dagegen zeigt die Evaluation des Modellversuchs zum Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte in Hessen, dass beruflich Qualifizierte ihr Studium im ersten Studienjahr nicht häufiger abbrechen als traditionell Studierende. Wie auch bei traditionell Studierenden ist bei den beruflich Qualifizierten ein erfolgreicher Studienbeginn (erreichte ECTS im ersten Semester) maßgeblich für einen erfolgreichen Studienverlauf (vgl. Greinert et al. 2022: Evaluation des Modellversuchs zum Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte in Hessen).
Dahm (2022) identifizierte in einem Vergleich mit traditionell Studierenden Einflussfaktoren für das Risiko eines Abbruchs. Ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen ist dabei die soziodemografische Dimension, was bedeutet, dass nicht-traditionell Studierende häufiger Kinder haben, erwerbstätig sind und/oder andere Verpflichtungen haben. Ebenfalls wurde festgestellt, dass nicht-traditionell Studierende ihre Studienerfolgswahrscheinlichkeiten geringer beurteilen als ihre Kommilitonen*innen (vgl. Dahm 2022: Warum brechen nicht-traditionelle Studierende häufiger ihr Studium ab? Eine Dekompositionsanalyse). Laut einer weiteren Studie des DZHW haben Studierende ohne Abitur vor allem in der Anfangsphase des Studiums ein höheres Abbruchrisiko als Studierende mit allgemeiner Hochschulreife oder Fachhochschulreife. Je länger sich beruflich qualifizierte Studierende jedoch im Studium befinden, desto weniger unterscheiden sie sich von traditionell Studierenden und sind ähnlich erfolgreich (vgl. Wolter et al. 2017: Nicht-traditionelle Studierende: Studienverlauf, Studienerfolg und Lernumwelten). Die Corona-Pandemie zeigte in den ersten vorliegenden Studien bisher keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Gruppen von Studierenden und deren Abbruchverhalten (vgl. Freitag, Kerst & Ordemann 2022: Besonders belastet und kurz vor dem Abbruch? Nicht-traditionelle Studierende zu Beginn der COVID-19-Pandemie).
Zu beachten ist, dass die Studienabbruchquote im deutschen Hochschulsystem allgemein sehr hoch ist. So lag die Studienabbruchquote im Bachelorstudium 2018 im Bundesdurchschnitt bei 28 Prozent, wobei die Abbruchneigung an Universitäten höher ist als an Fachhochschulen bzw. Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Im Vergleich zum Bachelorstudium brechen deutlich weniger Masterstudierende ihr Studium ab. An Universitäten und Fachhochschulen liegt der Anteil hier durchschnittlich bei 17 Prozent (vgl. Heublein, Richter & Schmelzer 2020: Die Entwicklung der Studienabbruchquoten in Deutschland).